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“Ich sehe anders” Wir sind Hapag-Lloyd: Kerstin Vogel berichtet aus Hamburg

Viele körperliche oder psychische Beeinträchtigungen sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Bei Hapag-Lloyd in Deutschland arbeiten mehr als 60 Menschen mit Behinderung. Eine von ihnen ist Kerstin Vogel, Manager Regional Customer Service North Europe. Die zweifache und alleinerziehende Mutter ist von Geburt an sehbehindert und seit einigen Jahren blind. In unserem Interview berichtet Kerstin von ihrer schwindenden Sehkraft, Herausforderungen im Alltag und verrät, welchen Herzenswunsch sie hat.

Kerstin, vielen Dank, dass du für dieses Interview zur Verfügung stehst. Ich war zunächst nicht sicher, wie ich dich am besten ansprechen soll und ob überhaupt… (Notiz der Autorin: Der Erstkontakt mit Kerstin fand über den MS Teams Chat statt. Das Interview führen wir über einen MS Teams Call).

Kerstin Vogel: Ich habe mich sehr über die Anfrage gefreut, vielen Dank! Ich kann verstehen, dass man Hemmungen hat eine blinde Person anzusprechen – das braucht man aber nicht! Wer fragt, weiß mehr und mögliche Missverständnisse kommen erst gar nicht auf! Ich freue mich sehr über jede Kontaktaufnahme!

Du bist seit deiner Geburt sehbehindert und seit einigen Jahren blind. Wie kam es dazu?

Eines möchte ich gerne vorwegsagen: Ich kann nur für mich selbst sprechen, nicht für alle blinden oder sehbehinderten Menschen. Das sind allein meine persönlichen Erfahrungen. Ich bin mit einer Sehbehinderung zur Welt gekommen. Die Ursache ist schulmedizinisch nicht zu erfassen. Auf dem linken Auge bin ich ganz blind. Rechts konnte ich immer noch etwas sehen. Ich hatte immer zwischen fünf und sieben Prozent Sehfähigkeit. Was sagt uns das?

Ich konnte immer viel mehr als ein vollblinder Mensch sehen, aber gleichzeitig viel weniger als normalsehende Personen. Als Kind habe ich sogar gedacht, ich könnte alles sehen – bis mir andere Kinder gesagt haben, was sie in der Ferne alles erkennen. Ich kam im Leben trotzdem immer gut zurecht und bin auf normale Schulen gegangen, unterstützt durch die Blinden- und Sehbehindertenschule in Schleswig und Hilfsmittel wie Lupen und Monokulare. Schon damals habe ich gelernt, wenig mit meiner Sehbehinderung aufzufallen, was aus heutiger Sicht betrachtet, nicht immer hilfreich war, denn so bekam ich in einiger Hinsicht nicht die Unterstützung, die ich vielleicht auch schon damals benötigt hätte, da es niemanden bewusst war.

Was war die größte Umstellung für dich?

Vor ungefähr neun Jahren habe ich mich dann noch einmal untersuchen lassen, weil ich vieles nicht mehr lesen konnte. Im Festlegungsbescheid habe ich dann den Status blind erhalten. Damals war mein Alltag noch fast normal und ich konnte wie zuvor weiterarbeiten. Dann wurde es merklich schlechter. Vor drei Jahren kam der Zeitpunkt, an dem ich es nicht mehr ignorieren konnte. In der Folge war ich fast eineinhalb Jahre krankgeschrieben. Ich konnte Dinge, die ich vorher selbst erledigt hatte, plötzlich nicht mehr alleine machen – Einkaufen zum Beispiel, das geht nicht mehr. Heute bestelle ich viel online oder lasse mir von meinen Kindern helfen. Die sind aktuell zehn und elf Jahre alt. Aber ich möchte natürlich auch die Kinder damit nicht belasten. Es ist ja nicht ihre Verantwortung Auch viele Sportarten, die ich früher gerne gemacht habe, kann ich nicht mehrmachen oder nicht mehr alleine. Meine Eltern helfen auch, die wohnen aber bei Kiel und sind nicht immer da. Der Verlust an Selbstständigkeit ist im Moment die größte Belastung und Herausforderung für mich, und es ist schwierig, immer die fragende Person zu sein. Das Gefühl von anderen Menschen und insbesondere deren Zeit, teilweise stark abhängig zu sein, stimmt mich manchmal traurig und einsam aber davon darf man sich nicht runterziehen lassen.

Menschen erfahren ihre Umwelt zu 80 Prozent visuell. Dir ist das leider nicht mehr möglich. Wie nimmst du die Welt seit deiner Erblindung wahr?

Ich kann noch Umrisse erkennen sowie zu einem gewissen Grad auch hell und dunkel unterscheiden. Das nutze ich viel und es hilft mir auch sehr. Die anderen Sinne benutze ich anders als normalsichtige Menschen. Das Gehör zum Beispiel: Wenn ich beim Laufen Autos oder Fahrradfahrer höre, dann hat mein Laufpartner die häufig noch nicht wahrgenommen. Als vor einiger Zeit die Maskenpflicht kam, war das schwierig für mich. Durch den Stoff über Mund und Nase habe ich mich noch eingeschränkter gefühlt. Aber es ging dann irgendwie.

Ich habe ja lange sehen können. Wenn mir jemand etwas beschreibt, dann kann ich mir das natürlich bildlich vorstellen. Das hilft mir sehr weiter. Ich kann zum Beispiel beschreiben, wie meine Kinder aussehen. Es ist sehr schwer zu erklären, da das Gehirn beim Sehen eine große Rolle spielt. Im Dezember war ich einmal im Büro bei Hapag-Lloyd, da hat sich in der Ballinhalle sehr viel getan – die habe ich in ihrem neuen Zustand noch nicht vor Augen.

Wie findest du dich im Alltag zurecht und wie kannst du all die Dinge tun, für die wir unsere Sehfähigkeit wie selbstverständlich einsetzen – zum Beispiel lesen, Textnachrichten per Handy schreiben oder am PC arbeiten?

Lesen ist relativ einfach, dafür gibt es Apps, die zum Beispiel gedruckte Schrift von Papier ablesen – die sind nicht perfekt, aber es funktioniert. Anstatt Bücher zu lesen, höre ich dann gerne das entsprechende Hörbuch. Um selber Texte anzufertigen, nutze ich die Diktierfunktion vom Smartphone. Aktuell mache ich eine blindentechnische Grundausbildung. Das heißt, ich lerne, als blinde Person am PC zu arbeiten. Vieles funktioniert über die Sprachausgabe. Eingaben tätige ich über Tastenkombinationen auf dem Keyboard. So bin ich an den Punkt gekommen, an dem ich wieder ins Unternehmen zurückkehren konnte. Trotzdem gibt es noch sehr viele technische Herausforderungen. Nur weil etwas barrierefrei ist, bedeutet das leider nicht, dass es auch einfach zu nutzen ist.

Ich bin noch nicht sehr gut darin, mich im öffentlichen Raum zu bewegen. Deshalb bin ich ungern alleine unterwegs. Wenn es nicht anders geht, studiere ich Wege ein. Manchmal nehme ich einen Langstock. Das kostet mich jedoch nach wie vor eine große Überwindung, da es für mich höchste Konzentration bedeutet. Ich muss mich auf das, was ich höre, fühle und rieche verlassen. Das ist enorm anstrengend. Auch unter geburtsblinden Menschen gibt es solche, die sich mit dem Stock nicht sicher fühlen. Ich habe deshalb einen Blindenführhund beantragt. Wenn alles klappt, bekomme ich ihn noch in diesem Jahr.

Wie gehst du selbst mit deiner Behinderung um?

Dies ist ein stetiger und nie wirklich endender Prozess. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man so lange nicht wirklich behindert ist, bis es aus gesellschaftlichen Gründen nicht mehr möglich ist, so zu sein, wie man war. Wenn ich beispielsweise nicht einkaufen gehen kann, bin ich behindert. Wenn ich dabei Hilfe habe, bin ich nicht behindert. Oft wird man erst durch Andere zum behinderten Menschen. Ich habe mal eine Fastenwoche auf Sylt gemacht. Da hatte ich bei der Bahn eine Ausstiegshilfe beantragt – und dann war da niemand. Und auch sonst keiner, den ich hätte ansprechen können. Wie kommt man dann als blinder Mensch zu seinem Taxi? Ich habe unzählige Beispiele für solche Situationen.

Du arbeitest noch vorwiegend von zu Hause aus. Kannst du dir vorstellen, wieder ins Büro zu kommen?

Ja, jedoch nicht regelmäßig. Da ich mit einer Sprachausgabe arbeite, spricht der Computer den ganzen Tag mit mir. Das mache ich dann mit Kopfhörern, um andere nicht zu stören. Dadurch ist eine Teilnahme am Büroalltag schwierig. Es wäre auch schädlich für mein Gehör, die Kopfhörer den ganzen Tag und so regelmäßig zu benutzen.

In Zukunft werde ich wahrscheinlich für Wege und Aufgaben, die anders nicht zu erledigen sind, eine Arbeitsassistenz bekommen. Ich bin mit dem Integrationsamt im Austausch. Wie es da weitergeht, weiß ich allerdings noch nicht.

Wie kann Hapag-Lloyd Kolleg:innen mit Sehbehinderung noch besser unterstützen – auf dem Arbeitsweg und auf dem Betriebsgelände?

Selbst als ich noch etwas mehr sehen konnte, bin ich immer mit Anspannung durch die Hapag-Lloyd Gebäude gelaufen. Markierungen an den Stufen und entsprechende Leitlinien sind hilfreich und notwendig. Handläufe an den Stufen in der Ballinhalle, gibt es mittlerweile, auch wenn der Prozess leider lange gedauert hat. Ich schätze das Unternehmen so ein, dass das alles umsetzbar ist – so habe ich Hapag-Lloyd jedenfalls kennengelernt Allerdings bedaure ich es sehr, dass die Prozesse hinsichtlich Abbau von Barrieren zu langwierig sind!. Wenn es um Inklusion / Unterstützung für Menschen mit Behinderungen geht, können und sollten wir noch so viel mehr machen. Da würde ich auch gerne persönlich mitarbeiten.

Was können unsere Kolleg:innen für dich tun?

Das ist schwierig zu beantworten (macht eine längere Pause).

Bislang erfahre ich sehr viel Verständnis und Unterstützung, wofür ich wirklich richtig dankbar bin! Eine Sache fällt mir doch ein. Events, Weihnachtsfeiern zum Beispiel, machen mir Spaß. Aber auch da konnte ich noch nie einfach herumgehen und alle begrüßen. Jetzt, da ich wirklich fast nichts mehr sehen kann, weiß ich einfach nicht mehr, wie ich daran teilnehmen kann. Auch bei unserer Jubiläumsfeier und dem Fußballturnier wäre ich gern dabei. Ich würde mich freuen, wenn es dafür eine Lösung gibt. Für jegliche Ideen bin ich sehr offen und dankbar.

 

Zur Hapag-Lloyd-Familie gehören über 13.000 Mitarbeiter in fast 130 Ländern der Welt. Die Größe und Internationalität unseres Unternehmens spiegelt sich in einer Vielzahl von Kulturen, Gewohnheiten, Gebräuchen und Normen wider. Obwohl wir ein einziges Unternehmen sind, schätzen wir unsere Unterschiede. Wir glauben, dass das Verständnis der Menschen und ihrer Hintergründe entscheidend für unser Wachstum als Individuen und als Gemeinschaft ist. Und wir betrachten unsere vielfältige Belegschaft als ein Geschenk, das allen ein besseres Gefühl des Zusammenhalts vermittelt, was wiederum eine positivere und offenere Unternehmenskultur fördert.

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